Als die Popmusik nach Wattenscheid kam

Anfang der  Sechziger schwappte die Welle der Popmusik ins Ruhrgebiet. 1963 waren die meisten Orte von der Welle tangiert. Im Ruhrgebiet fand sie anscheinend ähnlich günstige Bedingungen für die Verbreitung wie im englischen Industriegebiet, wie z. B. in Liverpool, dem Ort ihrer Entstehung.[1]

 

An der Märkischen Schule, die damals Jungen-Gymnasium Wattenscheid hieß, war diese Welle spätestens ab Mitte der 1960er Jahre zu einem Wellenkamm aufgelaufen. Sie spiegelt sich in einer Reihe von Artikeln der  Schülerzeitung ASPEKT, die zum ersten Mal 1963 mit einer Auflage von 2000 Stück erschien und für 30 Pfennig pro Exemplar zu erwerben war. Mit der relativ hohen Auflage zielte man auf einen inner- und außerschulischen Vertrieb, der auch den Einnahmen durch Werbeanzeigen zugutekommen sollte. Ab der 5. Ausgabe, die 1964 erschien, wollte man – so eine Mitteilung des Chefredakteurs Dieter Schulz[2] – mit dem Mädchen-Gymnasium zusammenarbeiten. Außerdem erhob Dieter Schulz den Anspruch, „kein Kulturblättchen, sondern eine Schülerzeitung“ herauszugeben, was aber nicht bedeute, dass alle Artikel von Schülern geschrieben werden sollten. In der Redaktion sei man daher bemüht, „von einigen ausländischen Mitarbeitern, von Studienräten, Ärzten usw., Beiträge zu bekommen.“[3] Protektor, d. h. betreuender Lehrer der Schülerzeitung, war zu Beginn Dr. Küster, später ab dem dritten oder vierten Heft Studienrat Wolfgang Nölle.

 

Eine Kostprobe einer Auslandsreportage  lieferte die Mitarbeiterin Ann Hunt aus London mit ihrem Artikel „The Beatles. They loved em – Yeah! Yeah! Yeah!“[4]  Er liest sich wie ein einziger Verriss, der kein gutes Haar  an der Band lässt. Die letzten Zeilen sind bezeichnend für den Tenor des gesamten Artikels:

 

     „(…) Ist es der Grund der englischen Konservativität, daß ebengenannte Teenager

     Bewegungen und Gejaule vollführen wie einst die Kelten bei ihrer Sonnenwendfeier?

     Oder ist ein neues männliches Schönheitsideal gewählt worden, das nach der Parole:

     „Man trägt wieder lang“ dazu beiträgt, die eigenen Laute ungehört zu lassen?

     – Singen ist Silber, Beateln bringt Gold!“

 

So negativ hier die Meinungsbildung der Leser  über die Beatles auch ausfiel, um so erfolgversprechender war aber der Umstand, dass die Redaktion von nun an gegen die Widerstände der Schulleitung und aus der Lehrer-, Schüler- und Elternschaft  unbefangener über Popmusik berichten konnte, wenn nicht das Prinzip der Ausgewogenheit und Objektivität in der journalistischen Berichterstattung und damit der pädagogische Sinn der Schülerzeitung überhaupt in Frage gestellt werden sollte. Doch diese Gangart ließ noch etwas auf sich warten.

 

 Erst  in der Ausgabe ASPEKT 7/1965, S. 11 wird das Thema „Beatles“ wieder aufgegriffen. „Auf Drängen der Schülerschaft“, wie die Redaktion einleitend bemerkt, habe man eine Hitparade erstellt, die auf dem Votum der Schüler beruhe und nach einem Punktesystem berechnet worden sei:[5]

 

  1. ‚I feel fine’ – The Beatles (1210 Pkt.)
  2. ‚Pretty Woman’ – Roy Orbison (1110 Pkt.)
  3. ‚Rag Doll’ – The Four Seasons (830 Pkt.)
  4. ‚Skinnie Minnie’ – The Rackets (680 Pkt.)
  5. ‚Bye, Bye Jonny’ – The Rattles             (630 Pkt.)
  6. ‚Tell me’ – The Rolling Stones (560 Pkt.)
  7. ‚Do wah diddy diddy’ – Manfred Mann (510 Pkt.)
  8. ‚The House oft he Rising Sun’ – The Animals (350 Pkt.)
  9. ‚I should have known better’ – The Beatles (280 Pkt.)
  10. ‚A Hard Day’s Night’ – The Beatles      (270 Pkt.)

 

Wie zu ersehen, tauchen die Beatles gleich mit drei Titeln auf und belegen den 1., 9. und 10. Platz. Sie dominieren die Hitparade. Auf Roy Orbison, der mit dem Song „Pretty Woman“ auf den 2. Platz landet, haben sie einen Vorsprung von 100 Punkten. Die Rolling Stones, die damaligen Konkurrenten der Beatles, scheinen abgeschlagen; sie liegen mit ‚Tell me’ auf Platz 6, also im Mittelfeld, dicht gefolgt von Manfred Mann mit ‚Do wah diddy diddy’.

 

In dem Artikel „Mersey und auch anderswo“[6] von Ewald Hildebrandt wird das negative Beatles-Bild von Ann Hunt korrigiert und mit  Erläuterungen der sozialen Entstehungsbedingungen der Beatmusik in Liverpool und in der Region am Mersey ergänzt. Der Autor schreibt:

    

     „(…) Wieviele Bands allabendlich in den Kellern Liverpools spielen ist unvorstellbar.

     Hier ist die Hälfte aller aller Männer unter 15 und 20 arbeitslos. Die Jugendkrimi-

     nalität ist unter diesen Umständen besonders groß. Der einzige Weg, nicht auf die

     schiefe Bahn zu kommen, ist, in eine Band einzutreten und in den Kellern zu spielen.

     So schart sich um eine jede Band ein Verehrerkreis. Die Jugendfürsorger haben schon

     längst erkannt, daß so  wieder eine Beschäftigung für die jungen Männer entsteht, die

     sie ausfüllt und ihnen wieder Ideale zeigt. Sie lungern nicht mehr herum, sondern

     üben, um ihr großes Ziel zu erreichen, sich und ihren Sound berühmt zu machen. Die

     großen Erfolge der Beatles kümmern sie nicht mehr, die nach ihrer Meinung des

     Geldes wegen spielen. Kenner der Liverpooler Verhältnisse behaupten sogar, daß

     es mindestens 50 Bands dort gibt, die besser sind als die Beatles. (…)“[7]

     

Als Jugendlicher in Wattenscheid zu dieser Zeit war man – wie auch anderswo – entweder Beatles- oder Stones-Fan. Im Grunde genommen war dies jedoch eine Art Glaubensfrage. Das unterschiedliche Image, das beide Bands in der  Öffentlichkeit besaßen, hat einmal der US-Schriftsteller Tom Wolfe folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Die Beatles wollen einem die Hand halten, aber die Stones wollen einem die Stadt niederbrennen.“[8] Demnach galten die Beatles bei ihren Fans als die Netten: höflich und zuvorkommend, humorvoll und hilfsbereit Mit ihrer Musik konnten sich Teenies und Omis anfreunden. Anders die Rolling Stones. Sie hielt man für echte Rocker: hart, laut, aggressiv und radikal. Wieviel an diesem Image dran war, konnten die Fans bei Livekonzerten der beiden Superbands erfahren, die in der Essener Grugahalle stattfanden.

 

Auf Initiative des Jugendmagazins BRAVO kamen nämlich 1965 die Rolling Stones nach Deutschland. Die Schüler Rolf Giegeling, Wolfgang Neufeld und Ewald Hildebrandt von der ASPEKT-Redaktion waren mit Zug, Bahn und Bus zum Flugplatz in Düsseldorf-Lohausen  gefahren, wo die Band landete. In ihrem Artikel „’Steine’ müssen rollen für den Sieg. Reportage über den Deutschlandbesuch der ‚Rolling Stones’“ beschreiben sie ihre Ankunft:

 

     „Das letzte Stück durften wir dann mit rotbesockten Mägdelein und Pilzkopf-

     geschmückten Bübchen um die Wette laufen. Augenscheinlich war an Düsseldorfer

     Schulen eine Grippe-Epidemie ausgebrochen. (…) Rot-weiße Schilder „Rolling Stones“

     führten uns dann zum Schauplatz der Schlacht, zur Halle 5. Hier hielt eine

     Düsseldorfer Band die johlende Menschenmenge in Bewegung (man gröllte „Lets go“).

     Dank unseres kurzen Haarschnitts, des halbwegs zivilen Aussehens und eines selbst-

     Gemachten Presseausweises, den Chef vom Dienst Giegeling glücklicherweise in

     seiner Brieftasche fand, gelangten wir unter Polizeibegleitung auch in die Halle. Da es

     mittlerweile schon 12.05 Uhr geworden war, kam auch bald der große Augenblick.

     Ein Bus mit den fünf langbehaarten Londonern fuhr in die Halle und gleichzeitig

     sprengten draußen 6000 beat-freudige Halbgescheite zwei Tore und einen Drahtzaun

     schoben gegen 150 Polizisten ein Hallentor auf, die Polizei gewann das Spielchen,

     nachdem die Feuerwehr mit der „Wasserkanone“ die Gemüter etwas abgekühlt hatte.

     Währenddessen zogen sich die fünf Musiker in den Pressesaal zurück und alles, was

     einen Zettel mit der Aufschrift „Presse* in der Hand hielt, durfte hinterher. Hier

     stellten sich die „Stars“ dann dem Kreuzfeuer der Blitze und den Fragen der schrei-

     benden Presse, unter anderen auch uns.“[9]

    

Nicht zu überlesen ist der auf Distanz gehende, heiter-ironische Grundton des Artikels, mit dem man sich offensichtlich vor vermeintlichen Kritikern schützen wollte. – Nach der ausführlichen „Wegbeschreibung“ folgt die Wiedergabe des Interviews, das die ASPEKT-Redaktion mit den Rolling Stones führte:

 

Frage: „Welche Erwartungen haben Sie von Deutschland?“

Antwort: „Wir sind das erste Mal in Deutschland und haben gar keine Vorstellungen von

dem, was uns erwartet.“

Frage: „Warum spielen Sie nicht in Düsseldorf?“

Antwort: „Das läßt sich leider nicht mit unserer Tournee in Einklang bringen.“

Frage: „Wie lange spielen sie schon zusammen?“

Antwort: „Es sind etwa drei Jahre.“

Frage: „Spielen Sie tatsächlich den härtesten Beat?“

Antwort: „Das kann man wohl so sagen; jedenfalls sind wir es unter den berühmten Bands. Unsere Lieblingsplatte ist ‚Satisfaction’ und ‚The last time’; sie wurde am meisten verkauft. Die Beatles, als Konkurrenten, sind ausgezeichnet, sie haben den Beat überhaupt populär gemacht, im übrigen sprechen wir aber nicht weiter darüber.“

Frage: „Beabsichtigen Sie, noch öfter nach Deutschland zu kommen?“

Antwort: „Wenn wir mehr Geld bekommen – ja.“

Frage: „Wieviel bekommen Sie denn?“

Antwort: „60 000 pro Abend.“

Frage: „Ist das nicht genug?“

Antwort: „Für uns nicht.“

 

Zum Schluss des Artikels heißt es dann:

 

     „In diesem Augenblick bumste es in regelmäßigen Abständen vor die Tür, Polizei

     wurde gerufen, ein Feuerlöscher explodierte, und nach einigen Augenblicken mußte

     die Konferenz abgebrochen werden, weil die Polizei nicht mehr imstande war, die

     anstürmende Menge zurückzuhalten. Rolling Stones und Presse machten, daß sie

     davonkamen, um den tobenden Fan-Massen zu entgehen. Damit war auch für uns

     der wesentliche Teil vorbei, und wir klemmten uns zusammen mit etlichen anderen

     in einen Bus, um zum Bahnhof zu gelangen. Vor Erregung bleiche Gesichter der Mit-

     reisenden zeugten von dem, was vor der Halle stattgefunden haben mußte. Dann

     stiegen wir erinnerungsschwelgend in den Zug und fuhren wieder in Gegenden mit

     halbwegs normalen Menschen.“[10]

 

Am 12. September stand dann  die „härteste Band der Welt“ in der Essener Grugahalle auf der Bühne und brachte das Publikum in Rage. Ein endlos langes Vorprogramm hatte die Spannung auf den Siedepunkt gebracht. Stühle wurden zu Bruch geschlagen, „Krachmacher“ randalierten. Ohne Polizei und Sicherheitskräfte ging nichts mehr. Eine echte Feuerprobe für die erst 1958 eröffnete Grugahalle! – Der eigentliche Auftritt der Rolling Stones dauerte  nur 18 Minuten und endete mit dem Hit „I can get no satisfaction.“ Eine Zugabe war von vorneherein ausgeschlossen.

 

Den zweiten Coup landete die BRAVO 1966, als es ihr gelang, die Beatles für eine Blitztournee durch Deutschland zu engagieren, mit den Stationen Hamburg, Essen und München. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden hochgeschraubt. Unter strikter Geheimhaltung traf der Sonderzug aus München mit den Four Fabs am 25. Juni 1966 auf dem Stadtteilbahnhof Mühlheim-Styrum ein. Hier war nichts los: keine großen Absperrungen, nur einige Fotografen und Polizeibeamte und ein paar Fans, die von der Ankunft Wind bekommen hatten.

 

Anfang des Jahres hatten sich die Beatles noch eine Auszeit von drei Monaten gegönnt, um sich vom Stress zu erholen. John Lennon hatte in einem Interview gesagt, die Beatles hätten mehr Anhänger als Jesus. Daraufhin gab es viele Proteste, Drohungen, Schallplatten wurden in einigen Städten verbrannt. Schließlich musste sich Lennon in Chicago öffentlich für seine Äußerung entschuldigen. – In Deutschland war von diesem Skandal nichts mehr zu spüren. Hier herrschte Beatlemania, eine Beatles-Begeisterung wie sie hätte größer nicht sein können.

 

Tanja Krienen, eine Zeitzeugin, erinnert sich an das Essener Beatles-Konzert:

 

     „Es war ein Urknall, eine Erschütterung, eine Explosion, ein Erdbeben gar, eine

     persönliche Weltneuerschaffung. Kreischende Mädchen, rockende Jungen – Menschen

     ohne Kontrolle! Gefühlsausbrüche der extremen Art, Ekstase bis zur Bewusstlosig-

      keit; Mädchen, die außer sich waren: Alles tanzte, schrie, manche tobten bis sie

      umfielen und weggetragen wurden, (…) diese Atmosphäre – die Bässe, die Lautstärke,

      die Hitze, der Geruch – das alles war neu, aufregend und völlig anders, als sämtliche

      vorangegangenen Erfahrungen.“[11]

 

All dies trug die Züge einer Massenhysterie! – Die Tatsache, dass besonders viele Mädchen bei den Konzerten ausflippten, hatte sicherlich auch damit zu tun, dass John Lennon die ersten Beatles-Lieder – wie er selbst in einem Interview erklärte – speziell für Mädchen geschrieben hatte, und zwar nach dem Muster: „She loves him. He loves her. They love each other.“ Diese Lieder waren das Sprungbrett für die Beatles-Karriere.

 

Redaktionsmitglieder der Schülerzeitung ASPEKT hatten das Beatles-Konzert in Essen besucht und konnten sogar – wie Rolf Giegeling in seinem Artikel „Mähnen – Moden – Musik“[12] schreibt – vor ihrem Auftritt ein kurzes Interview mit den Beatles „erschleichen“. Allerdings hatten sie Schwierigkeiten mit den Polizisten der Wachmannschaft. Bis sie diese davon überzeugen konnten, dass auch sie von der Presse waren und „keine überdrehten Beat-Jünglinge“, war viel kostbare Zeit vergangen, so dass sie nicht viel fragen konnten, zumal noch andere Presseleute nach ihnen kamen.

 

Aspekt: Was machen Sie außer den Konzerten?

Beatles: Wir üben, Paul komponiert, John schreibt Bücher und außerdem filmen wir ja auch noch.

Aspekt: Lennon, Sie schreiben Bücher, welcher Art?

Beatles: Es ist Nonsense. (Siehe Aspekt Nr. 10 – Red.)

Aspekt: Wie soll ich das verstehen?

J. Lennon: Nonsense ist eine besondere Art von Literatur, die aus Wortspielereien besteht, deren Form das Künstlerische ausmacht, deren Sinn aber in ulkiger Weise verdreht ist oder manchmal gar nicht existiert.

Aspekt: Gibt es diese Bücher nur in England?

J. Lennon: Die meisten ja, aber in Deutschland gibt es auch schon Bücher von mir. Die Übersetzung ist natürlich eine besondere Schwierigkeit, weil das, was im Englischen gleich lautet, das im Deutschen noch lange nicht tut. Trotzdem meine ich, daß man in Deutschland diese Bücher noch etwas besser kaufen sollte.

Aspekt: Da wir gerade beim Verkauf sind, kümmern Sie sich um das Geschäftliche?

Beatles: Nein, das macht Brian, vom Geld verstehen wir nichts.

Aspekt: Aber Sie lieben es?

Beatles: Selbstverständlich, wer tut das nicht.

 

Rolf Giegeling schreibt dann weiter:

 

          „Als wir noch weitere Fragen stellen wollten, wurden wir von den Aufsehern

          hinauskomplimentiert, das Konzert sollte nämlich beginnen, und so war es dann

          Essig mit dem Rest unseres Interviews, aber wir hatten ja wenigstens etwas

          erfahren. Tja, und dann kam das Konzert. Es ist verwunderlich, daß sie, die Beatles,

          das Publikum noch immer auf ihrer Seite haben. Sie begannen mit der lautesten

          Grölerei und heute bringen sie Balladen wie Yesterday! Trotz dieses Charakter-

          Wechsels um 180 Grad schreien die Fans heute wie gestern. Es muß also an den

          Beatles selbst liegen und ich glaube, daß der, der sagt, die Beatles sind eine ein-

          same Klasse, vielleicht gar nicht weiß, wie sehr recht er hat.“[13]

 

In seinem Rückblick auf das Jahr 1966 zieht Jürgen Linka das Fazit: „Um die Karten rissen sich die Fans der Beatles. Die vier Merseyianer stellten ganz Deutschland auf den Kopf.“[14]

 

Und noch ein anderes Großereignis im Ruhrgebiet, an dem auch Pennäler des Wattenscheider Jungen-Gymnasiums teilnahmen und von dem sie in der Schule ihren Klassenkameraden berichteten, machte 1966 von sich reden: der Gelsenkirchener Ostermarsch. Prominente Teilnehmerin war Joan Baez, die damals mit Bob Dylan liiert war. Zwischen beiden gab es zu dieser Zeit eine Art Arbeitsteilung: während Dylan  Protestlieder verfasste und Demonstrationen scheute, trat Joan Baez auch bei politischen Veranstaltungen auf und sang die von ihm komponierten Lieder. Baez war in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung bekannt geworden, wo sie gegen den Vietnamkrieg und Rassismus protestierte. Ihr Song „We shall overcome“ wurde die Stimme und das Gewissen der protestierenden Jugendbewegung.

 

Am Beispiel von Joan Baez und Bob Dylan zeigt sich, dass die Popmusik des Jahres 1966 schon ihr Spektrum erweitert hatte. Popmusik wirkte in den politischen und gesellschaftlichen Raum. Darüber hinaus  umfasste sie nicht nur Beat, Blues, Rock ‚n’ Roll und Soul, sondern auch Spielarten des Folk und der Protestsongs.[15] Auch bei der Wahl der Musikinstrumente wurde Neues geschaffen. So hatte Bob Dylan für  eine Erweiterung der Popmusik gesorgt, indem er die Elektrogitarre und Mundharmonika mit seinen Songs populär machte. Bei der Jugendbewegung in Deutschland wurde seine Musik jedoch von den Beatles und den Rolling Stones weitgehend in den Schatten gestellt.

 

Der Auftritt berühmter Persönlichkeiten aus der Popszene und vor allem die beiden Konzerte der Beatles und Rolling Stones in der Grugahalle 1965 und 1966 haben nicht nur das kollektive Gedächtnis  des Ruhrgebiets geprägt, sondern haben auch dazu geführt, dass in der gesamten Region eine Vielzahl von Bands entstanden und den Popstars nacheiferten.[16] Nicht mehr die Eltern und Lehrer waren jetzt Vorbilder, sondern die Beatles, die Rolling Stones oder Joan Baez und Bob Dylan. Die Welle der Popmusik war unaufhaltsam im Vormarsch.

 

Anscheinend waren die Versuche, eine eigene Band zu gründen,  so zahlreich, dass sich die ASPEKT-Redaktion genötigt sah,  eine Warnung vor unüberlegtem Handeln  zu veröffentlichen, und zwar von Arnold Grabe und Günter Wiebe. In ihrem Artikel „Sorgen einer Beatband“[17] weisen sie in erster Linie auf die finanziellen Lasten hin, die eine Band zu bewältigen hat, wenn sie erfolgreich sein will: die Anschaffung teurer Instrumente und technischer Geräte, die Miete  eines geeigneten Proberaums,  die Anschaffung eines Autos oder die Ausgaben für die Miete eines Leihwagens.

 

Arnold Grabe und Günter Wiebe wussten, wovon sie sprachen. Sie spielten in der Schülerband „King George and the Butlers“, die sich am Wattenscheider Jungen-Gymnasium formiert hatte. Ihr ursprünglicher Name war „The Butlers“ und damit waren sie in Schülerkreisen auch bekannt. Als sich  herausstellte, dass dieser Name in der Popszene schon vergeben war, hatten sie „King George“ zum Namen hinzugefügt, wahrscheinlich um zu signalisieren, dass man sich an der britischen Popmusik orientierte.

 

„King George and the Butlers“ waren eine Coverband, wenngleich sie später auch eigene Songs herausbrachten (z. B. „To the Sky“). Da die Mitglieder der Band aus einer Klasse bzw. einem Jahrgang der Oberstufe stammten, konnten Tonfolgen, Songtexte und Instrumentalisierung auch in Pausen abgesprochen werden. Englische Songtexte, die man covern wollte, wurden häufig nur aufgrund des Hörverstehens rekonstruiert und zur Überprüfung dem Englischlehrer vorgelegt. Arnold Grabe, der Schlagzeuger der Gruppe, trommelte bei Gelegenheit auch schon mal den Rhythmus eines Songs auf der Schulbank vor. Wenn Musiklehrer Dr. Zöllner gute Laune hatte, durfte Günter Wiebe, der Keyboarder, ab und an einen modernen Song am großen Flügel des Musiksaals vorspielen. Einen großen Erfolg konnte die Band am 17. September 1966 beim Beatfestival in der Wattenscheider Stadthalle und Aula des Jungen-Gymnasiums verbuchen, als sie nach den Wattenscheider „The Gipsys“ den zweiten Publikumspreis erhielten.[18]

 

Aufgetreten sind „King George and the Butlers“ häufig bei Jugendtänzen, die in der Regel am Wochenende in Jugendheimen und anderen geeigneten Örtlichkeiten stattfanden. Auch in der Diskothek „Six Saloon“ an der Westenfelder Str., wo der bei Jugendlichen beliebte Diskjockey Mal Sondack vom WDR hin und wieder Platten auflegte, hatten sie Auftritte. Furore machten sie bei solchen Gelegenheiteen mit ihrer gecoverten Version von „Poor Boy“ (im Original von „The Lords“). Von der Musik war dann auf der Tanzfläche kaum etwas zu hören, weil das ganze Publikum mitgröllte.

 

Ab 1969 also ein Jahr nach dem Abitur – hatten die „Butlers“ den Profi-Status erreicht. Sie hatten ihre Band in „Melody Clan“ umbenannt und tourten als Begleitband von Howard Carpendale durch Europa. Als im Höntroper Schwimmbad im Südpark 1971 die 83. Deutschen Schwimmmeisterschaften  ausgetragen wurden, glänzten sie  am Abend mit ihrem Auftritt im Begleitprogramm.  

 

Keyboarder Günter Wiebe wurde Musiklehrer an der Lieselotte-Rauner-Schule in Wattenscheid. Zusammen mit dem Schüler Stefan Westermeier gründete er dort eine Schülerband – wie damals in den Sechzigern am Jungen-Gymnasium. In der Wattenscheider Musikszene war Wiebe von 1991 bis 2008 mit  „Cesar & his Romans“ bzw. „4 Cesars“  aktiv.[19] Im Jahre 2016 ist er aus seinem Ruhestand zurückgekehrt und hat sich mit der Wattenscheider Kultband „Black Devils“ zusammengeschlossen. [20] The Beat goes on.

 

Heinz-Werner Kessler

 

 

[1] Siehe hierzu: Theodor Heinrich Grütter: Rock und Pop im Pott. 60 Jahre Musik im Ruhrgebiet. In; Ders. (Hg.), Rock & Pop. 60 Jahre Musik im Ruhrgebiet (Essen 2016), S. 11

[2] ASPEKT 4/1964, S. 2

[3] Ebenda

[4] Ebenda, S. 20

[5] ASPEKT 7/1965, S. 11

[6] ASPEKT 8/1965, S. 6

[7] ASPEKT 8/1965, S. 23

[8] Siehe: Christof Ernst, Beatles vs. Stones. Die Story einer ewigen Hassliebe. In: Berliner Kurier vom 26.08.2014

[9] ASPEKT 8/1965, S. 23

[10] Ebenda

[11] Zit. b. Frank Schäfer: 1966. Das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsein erweiterte (Salzburg 2016), S. 99

[12] ASPEKT 11/1966, S. 38

[13] Ebenda

[14] Jürgen Linka: Anno 1966. In: ASPEKT 13/1967, S. 1

[15] Siehe hierzu: Detlef Siegfried, 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Stuttgart 2018, S. 115

[16] Grütter, a. a. O., S. 11 f.

[17]ASPEKT 13/1967, S. 21/22.

[18] Delia Albers: Musik, Mode und Maloche. In: WAZ vom 27. Nov. 2011)

[19] Timo Gilke: Alte Zeiten wieder aufleben lassen. In: WAZ, 10. Juni 2016

[20] Timo Gilke: Schwarze Teufel holen sich Cäsaren. In WAZ vom 21. Mai 2016

 

 

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Als die Popmusik nach Wattenscheid kam